Begibt man sich mit wachem Blick in ein altes Haus, stößt man unweigerlich auf Spuren seiner früheren Bewohner. Eine behutsame Rekonstruktion legt nicht nur die Schichten der baulichen Auskleidung frei. Vielmehr finden sich die Spuren derer, die in den Mauern des Hauses ihr Leben verbrachten. Die bauliche Wiederherstellung des ehemaligen Jüdischen Waisenhauses in Berlin-Pankow offenbart das Schicksal der Kinder, die hier Zuflucht suchten. Wenn der Restaurator unter hastig übertünchten Deckenelementen eines früheren Betsaals Symbole jüdischen Glaubens freilegt, wird zugleich die Geschichte einer Vertreibung erzählt. Einer Vertreibung von Kindern, denen das Waisenhaus mit seinen schweren Mauern als besonders behüteter Ort erscheinen musste. Die ehemaligen Zöglinge berichten über eine "Verstörte Kindheit", in der sie gezwungen waren, den Ort zu verlassen, der ihnen Heimat war. Und in der sie mit ansehen mussten, wie ihre verbliebenen Freunde und Lehrer im Holocaust ermordet wurden. So wird aus der Chronik eines Bauwerks die bewegende Lebensgeschichte seiner Bewohner.
Rezensionen
Ein mutiger Lehrer
Es ging unter die Haut, als die Namen von 800 Pankower Juden verlesen wurden. Ihrer ist in einer anrührenden Zeremonie am Dienstag (27.01.2009) vor dem Jüdischen Waisenhaus in Berlin-Pankow gedacht worden, von zahlreichen älteren, aber auch sehr vielen jungen Hauptstädtern.
Auch zur Vorstellung des hier anzuzeigenden Buches im vergangenen Jahr war der Andrang groß, der Betsaal im ehemaligen Waisenhaus nahezu überfüllt. Auf dem Podium hatte eine kleine Gruppe älterer Leute über 80 Platz genommen. Alex Deutsch, der Älteste, zählt stolze 95 Jahre.
Das dank der Cajewitz-Stiftung in den 90er Jahren renovierte Waisenhaus erzählt die Geschichte einer Vertreibung. Der Vertreibung von Kindern. Ehemalige Zöglinge berichten in dem Buch über eine "Verstörte Kindheit", in der sie gezwungen waren, den Ort zu verlassen, der ihnen Schutz und Geborgenheit gegeben hat, Heimat war. Berichtet wird über einen Lehrer, den Hausvater des Waisenhauses. Es ist Heinz Nadel, der sich später Harry Harrison nannte, vor dem Ersten Weltkrieg geboren, 1989 in England verstorben. Im Nachruf eines ehemaligen Zöglings heißt es: "Einige Monate vor der infamen >Kristallnacht< wurde das Waisenhaus von einem organisierten Mob heimgesucht, der die Etage, in welcher sich auch die Schulsynagoge befand, verwüstete. Die Kinder flohen in höchster Angst in unterschiedliche Bereiche des Gebäudes und der Versuch, die Polizei zu alarmieren, blieb ohne jeden Erfolg. Als der Mob die ziemlich große Haupttreppe hinaufstürmte, stellte sich der Lehrer Nadel entgegen - allein, aber einen Jungen im Arm haltend. Der Mob hielt inne und in diesem Moment der Überraschung war es dem Mann in seiner besonnenen und ruhigen Art möglich, ihnen zu bedeuten, dass sie in ein Waisenhaus eingedrungen sind. Er forderte sie auf, die Kinder nicht weiter zu erschrecken und das Haus zu verlassen und - man glaubt es kaum - sie zogen ab." Kurz vor dem Krieg konnte Heinz Nadel mit seinem Bruder nach England flüchten und trat dort in die Armee ein. Seine Einheit befreite das KZ Belsen am 15. April 1945.
Das Gebäude des Waisenhauses hatte im Krieg die SS übernommen. Zuvor waren die letzten 44 Zöglinge, Lehrer und Angestellte deportiert worden. Nur wenige Kinder hatten das Glück, noch rechtzeitig nach England gerettet worden zu sein. Auch über sie ist in diesem Buch zu lesen. Aus Lothar Baruch wurde Leslie Brent, ein weltweit anerkannter Professor für Immunologie in London und neben Dr. Inge Lammel sowie Professor Peter-Alexis Albrecht Mitherausgeber dieses Bandes. Einige konnten über Shanghai nach Amerika gelangen. Wie Nadel so kämpfte auch Ernst Herbert Farr in der britischen Armee gegen Hitlerdeutschland; es verschlug ihn später nach Argentinien. Henry Glaser starb 2005 in den USA. Er war Mitarbeiter der Kennedy-Administration gewesen. Seine Witwe hat seine Flucht und Lebensgeschichte nachgezeichnet.
Kurt Crohn, der letzte Direktor des Waisenhauses, wurde 1943 mit Familie nach Theresienstadt deportiert und ermordet. Seine Frau und Tochter Renate Bechar überlebten. Sie wanderten 1949 nach Israel aus. Bert Lewyn überlebte im Untergrund Berlins und ging nach dem Krieg nach Amerika. Seine unglaublichen Erlebnisse als Illegaler hat er in dem Buch "On the Run in Nazi-Berlin" der Nachwelt überliefert. Deutsch hat Auschwitz überlebt und arbeitet heute noch, trotz seines hohen Alters, aufklärend in Schulen für Toleranz, gegen Neonazismus, Gewalt, Hass und Rassismus.
(Ernst Dornhof)
ND, 29.01.2009
Am 9.11.2008 - dem 70. Jahrestag der Pogromnacht – war der Betsaal im ehemaligen Jüdischen Waisenhaus Pankow nahezu überfüllt. Welcher Ort und welcher Tag könnten geeigneter sein für die Vorstellung eines Buches über dieses Haus? Das Gebäude steht auf der Berliner Straße, in der Nähe des S- und U-Bahnhofs Pankow und ist sorgfaltig wiederhergerichtet.
Heute ist es u. a. Sitz einer großen öffentlichen Bibliothek, einer Bildungsstätte und bekannter Ort kultureller Veranstaltungen. An diesem Tag hatte auf dem Podium eine kleine Gruppe älterer Leute über 80 Jahre Platz genommen, Alex Deutsch, der Älteste, 95, Mitautoren des Buches, die zu Wort kamen mit Texten aus dem Buch und aktuellen Stellungnahmen, moderiert von Gerhard Wolf. Zuvor sprachen einführend der Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, der Pankower Bürgermeister Matthias Kohne und Professor Peter-Alexis Albrecht vom Vorstand der Cajewitz-Stiftung.
Die bauliche Wiederherstellung des ehemaligen Jüdischen Waisenhauses in Berlin-Pankow in den Neunziger Jahren durch die Cajewitz-Stiftung unter Prof. Albrecht offenbart das Schicksal der Kinder, die hier Zuflucht suchten. Wenn der Restaurator unter hastig übertünchten Deckenelementen eines früheren Betsaals Symbole jüdischen Glaubens freilegt, wird zugleich die Geschichte einer Vertreibung erzählt. Einer Vertreibung von Kindern, denen das Waisenhaus mit seinen schweren Mauern als besonders behüteter Ort erscheinen musste.
Ehemalige Zöglinge berichten in dem Buch über eine "Verstörte Kindheit", in der sie gezwungen waren, den Ort zu verlassen, der ihnen Heimat war. Und in der sie mit ansehen mussten, wie ihre verbliebenen Freunde und Lehrer im Holocaust ermordet wurden. So wird aus der Chronik eines Bauwerks die bewegende Lebensgeschichte seiner Bewohner. Ein Stück Zeitgeschichte mit einem ausführlichen Kapitel über Entstehung und Baugeschichte eines Pankower Denkmals.
Über einen Lehrer und Hausvater des Waisenhauses wird berichtet. Es ist Heinz Nadel, der sich später Harry Harrison nannte, vor dem ersten Weltkrieg geboren, 1989 in England verstorben: Im Nachruf eines ehemaligen Zöglings heißt es: "Einige Monate vor der infamen "Kristallnacht" wurde das Waisenhaus von einem organisierten Mob, der die Etage, in welcher sich auch die Schulsynagoge befand, verwüstet. Die Kinder flohen in höchster Angst in unterschiedliche Bereiche des Gebäudes und der Versuch, die Polizei zu alarmieren, blieb ohne jeden Erfolg. Als der Mob die ziemlich große Haupttreppe hinaufstürmte, stellte sich der Lehrer Nadel entgegen – allein, aber einen Jungen im Arm haltend. Der Mob hielt inne und in diesem Moment der Überraschung war es dem Mann in seiner besonnenen und ruhigen Art möglich, ihnen zu bedeuten, dass sie in ein Waisenhaus eingedrungen sind. Er forderte sie auf, die Kinder nicht weiter zu erschrecken und das Haus zu verlassen und – man glaubt es kaum – sie zogen ab. - Kurz vor dem Krieg konnte Heinz Nadel mit seinem Bruder nach England flüchten, trat in die Armee ein. Seine Einheit befreite das Konzentrationslager Bergen-Belsen am 15. April 1945." (Leslie Brent, "Quiet Hero of Berlin" Guardian 1989.)
Im Krieg übernahm die SS das Gebäude. 44 ehemalige Schüler, Lehrer und Angestellte des Waisenhauses wurden deportiert und ermordet. Andere hatten Glück und konnten durch Kindertransporte ins Ausland gerettet werden. Was aus ihnen wurde, erfahren wir aus diesem Buch. Aus Lothar Baruch wurde Leslie Brent, weltweit anerkannter Professor für Immunologie in London und neben Dr. Inge Lammel und Professor Peter-Alexis Albrecht Mitherausgeber des reich illustrierten Bandes.
Andere konnten über Shanghai nach Amerika gelangen. Ernst Herbert Farr kämpfte in der britischen Armee gegen Hitlerdeutschland und geriet nach Argentinien. Henry Glaser starb 2005 in den USA. Seine Witwe hat seine Flucht und Lebensgeschichte nachgezeichnet. Er wurde in den USA Mitarbeiter der Kennedy-Administration. Kurt Crohn, der letzte Direktor des Waisenhauses wurde 1943 mit Familie nach Theresienstadt deportiert und ermordet. Seine Frau und Tochter Renate Bechar hatten überlebt. Sie waren jahrelang im Waisenhaus, emigrierten 1949 nach Israel. Bert Lewyn überlebte im Untergrund Berlins und ging nach dem Krieg nach Amerika. Seine unglaublichen Erlebnisse als Illegaler hat er in dem Buch "On the Run in Nazi-Berlin" der Nachwelt überliefert. Max Deutsch hat als einer der Wenigen Auschwitz überlebt und arbeitet heute noch – geboren 1913 – durch Besuche in Schulen aufklärend für Toleranz, gegen Gewalt, Hass und Rassismus.
Der Leser wird dieses Buch (Band I der Schriftenreihe der Cajewitz-Stiftung) betroffen und nachdenklich aus der Hand legen.
Pankower Brücke, Januar 2009, S. 17