Für das Buch "Märkische Lebenswelten" erhält Jan Peters den "René Kuczynski Preis". Mehr Informationen finden Sie unter: www.ith.or.at/ith_e/kuczynski2008_e.htm.
"Märkische Lebenswelten". Ein scheinbar exotisches Thema, ungewöhnlich vielleicht auch in der Art des Fragens nach märkischer Geschichte. Wie lebten, dachten und fühlten Menschen in der Mark Brandenburg vor drei-, vier- oder fünfhundert Jahren, und zwar in einem ziemlich genau umgrenzten Handlungsraum, wie erfuhren sie ganz konkret ihren individuellen Alltag? Darauf konnte schon manche Antwort gegeben werden, allerdings nur selten so belegbar und nachvollziehbar wie hier. Denn märkische Lebenswelten und Lebensweisen sind Dank glücklicher Umstände für den "Saldern-Kreis" um Wilsnack und Plattenburg in der Westprignitz für die Frühe Neuzeit erstaunlich gut rekonstruierbar. Eine so dichte archivalische Überlieferung, wie sie das Brandenburgische Landeshauptarchiv in Potsdam für eben diesen Raum und diesen Blickwinkel unter seinen Schätzen aufbewahrt, ist, zumindest für die märkischen Lande, doch eher eine Ausnahme. Was sonst dem forschenden Auge des Historikers so oft verborgen bleibt, kann hier für jene über zehn Dörfer, zwei Herrensitze und das Städtchen Wilsnack, die durch Saldernsche Besitzrechte verbunden waren, gewissermaßen gehoben werden. Gefragt wird nach Dynamik und Ordnung, Dramatik und Regulierung in jenem Saldernschen "Kreis", der sich in Havel- und Elbnähe, besonders um den Karthane-Fluß hinzog und viele Feldmarken, Weiden, Mühlen, Gewässer und tiefe Wälder umschloss. Das Alltagsleben in diesem herrschaftsgeprägten Gebiet war "am Anfang", in der Mitte des 16. Jahrhunderts, durch die Aufregungen um die Zerstörung des Wilsnacker "Wunderbluts" bestimmt, aber der Plattenburg-Wilsnacker Raum litt auch in nachfolgender Zeit keinen Mangel an Unruhen mancherlei Art. Da gab es die oft gewaltsamen Verlaufformen von Konflikten in und zwischen den Dörfern, ebenso deren spannungsgeladene Beziehungen zu einigen "Befehlshabern" auf der Plattenburg und dem Herrenhof in Wilsnack. Die Umsetzung der von diesen örtlichen Zentren ausgehenden eigenwirtschaftlichen Pläne war auf den umliegenden Dörfern und in Wilsnack ebenso zu spüren wie in den neuralgischen Grenzräumen zu anderen Herrschaften. Misstrauisch verfolgten die Bauern den gutswirtschaftlichen Umbau, der nicht nur neue ökonomische Belastungen und Verfügungen über ihre Arbeitskraft brachte, sondern auch Selbstbestimmung und Würde in Frage stellte.
Volksmagische Praktiken, Hexenverfolgung und die oft heftige Umsetzung von Ehr-Vorstellungen standen mit den Neuerungen im Wirtschafts- und Arbeitsleben gewiss in manchem Zusammenhang. Denn es waren doch unvereinbare Ökonomien, die Herrensitz und Bauernhof trennten. Umgekehrt lässt sich aber auch überraschender Zusammenhalt beobachten, besonders in Kriegs- und Krisenzeiten, beim Zusammenstehen gegenüber Dritten, manchmal auch im Alltag überhaupt. Langzeit-Stabilität war dieser Gesellschaft nicht fremd, auch wenn die schriftliche Überlieferung, die Gewohntes und Wiederholtes meist übergeht, die Sprache von Konfliktgemeinschaften zu sprechen scheint. Jedenfalls: Nach Stillstand, auch nach Rückstand als Daseinsprinzip wird man in diesem Raum vergeblich fahnden.
Jeder Tag brachte neue Probleme. Der dörfliche Umgang mit Dieberei und der herrschaftliche mit Aufmüpfigkeit gehörten zu den Dauerthemen der Krug-Runden. Hier ist die Kraft von Geschwätz und die Sprache des körperlichen Habitus praktiziert worden. Auch das Agieren der Prediger, ihre materielle Not und ihr Umgang mit den Seelensorgen in ihrer "Herde" gehörten zu den großen Themen des kleinen märkischen Alltags. In vielen Zusammenhängen lernen wir auch die Besonderheiten von weiblicher Energie und Furchtlosigkeit kennen. Und die sonderbaren Rituale der ebenso großmäuligen wie um ihr soziales Ansehen besorgten Streithähne auf den Marktplätzen, beim Gemeindebier oder beim Ratschlag nach dem Kirchenbesuch.
Besonders aus den überlieferten Gerichtsprotokollen wird uns dichtes Wissen zuteil um die große Dynamik von stiller Hoffnung, leisen Sorgen und tiefem Leid im Kleinen, aber auch um Listen und Launen, um Aufgeben und um Aufbegehren. Tieferes Eindringen in den mikrohistorischen Alltag bedarf allerdings der makrohistorischen Begleitung. Als Vermittler zwischen dem Eintauchen in die Lebendigkeit der Kleinräumigkeit und in die scheinbar kaum bewegte Struktur des großräumigen Umfelds dienen hier Rückbindungen an den allmählichen Wandel in Richtung auf die sich ankündigende moderne Welt. Ökonomie und Politik der großen Welt ringsum bleiben als Verständnis-Folie im Hintergrund anwesend. Allerdings eher in Gestalt kurzer Seitenblicke, denn schließlich erfüllten auch andere Vermittlungsinstanzen, gewissermaßen vor Ort, diese verbindende Funktion: Der Wandel der demographischen Verhältnisse im Plattenburg-Wilsnacker Raum, die Rekonstruktion von strukturell geprägten Biografien und die individuellen Vorstellungen von Raum und Zeit reflektierten auf ihre Weise, was in und um Plattenburg-Wilsnack herum geschah.
Das alles bringt uns Menschen näher, deren historisches Andenken sonst eher in Namenlosigkeit und Dunkel zu versinken pflegt. "Märkische Lebenswelten" ist dergestalt eine Geschichte des konkreten Denkens und Fühlens, des Erfahrens und Handelns geworden, des Lebensweltlichen also, mithin eine Gesellschaftsgeschichte eigener Art.
Rezensionen
Nicht nur die an der frühneuzeitlichen brandenburgischen Landesgeschichte Interessierten warteten schon seit längerem voller Spannung auf das hier anzuzeigende Buch, das – so kann wohl schon jetzt resümiert werden – als das Lebenswerk, das opus magnum eines weit über die Grenzen Brandenburgs hinaus bekannten Sozialhistorikers angesehen werden kann.
Das Werk von Jan Peters ordnet sich in jenen, in den letzten Jahrzehnten immer breiter werdenden Strom von Forschungen ein, die eine neue Sichtweise auf die ländliche Gesellschaft dokumentieren. Eine Sichtweise, die gerade für die ostelbischen Regionen das frühere, recht holzschnittartige, dafür aber lange Zeit so eingängige Bild über devote, über fast keine eigenständigen Artikulationsformen verfügende Untertanen einerseits und in ihrem Herrschaftsbereich als kleine Despoten auftretende Gutsherren anderseits korrigiert. Fast müßig, daran zu erinnern, dass Peters selbst diese neue Forschungstradition seit seinen schon in der DDR betriebenen Studien maßgeblich mit geprägt hat. Das große Buch über die Herrschaft Plattenburg-Wilsnack wird künftig in eine Reihe gestellt werden müssen mit den bislang mit mikrohistorischem Ansatz arbeitenden und auf verschiedenen Gebieten der frühneuzeitlichen Gesellschaftsgeschichte meinungsbildenden Monographien, wie etwa die von Hans Medick zu Laichingen oder Rainer Beck zu Unterfinning.
Der Autor verhehlt nicht die großen Schwierigkeiten, sich dem »sperrigen Konzept« zuzuwenden, die die Erforschung der »konkreten Lebensformen einer Kleingesellschaft« (S. 3) nun einmal mit sich bringt. Dennoch werden die Vorzüge einer solchen »dichten Beschreibung«, einer histoire totale wieder einmal in bewundernswerter Weise vorgeführt. Bei der hier präsentierten »Kleingesellschaft« handelt es sich mit der Herrschaft Plattenburg-Wilsnack um einen in der Prignitz liegenden, vergleichsweise geschlossenen adligen Besitzkomplex mit sieben Dörfern und einer Kleinstadt – Wilsnack –, sowie einer ganzen Reihe von anderen Orten, in denen die dort ununterbrochen bis 1945 lebende Familie von Saldern über Anteilbesitz bzw. Nutzungsrechte verfügte.
Das, was Jan Peters am Beispiel der Herrschaft Plattenburg-Wilsnack sowohl von der Bewältigung der Quellenmasse als auch von der darstellerischen Leistung her so eindrucksvoll vorgeführt hat, kann in dieser Intensität eigentlich nur für einen regional eingegrenzten Untersuchungsgegenstand geleistet werden. Ohnehin sind die früheren Vorbehalte gegenüber dem mikrohistorischen Ansatz zurückgetreten. Allein das Durchblättern des neunseitigen Inhaltsverzeichnisses vermittelt einen Eindruck von dem großen Facettenreichtum der in diesem Buch behandelten Aspekte, und die dort aufgeführten, oft von brillanter Formulierungskunst kündenden Kapitel- und Unterkapitelüberschriften machen – um es salopp zu formulieren – »Appetit« auf die Lektüre der jeweiligen Passagen. Während Abschnitte wie »Widerhaarigkeit oder Einfügsamkeit«, »Herrschaftshäkelei – Positionskämpfe in Abbendorf«, »Die Notwehr der Schwachen« oder »Bauerndienste und Bauernschläue« die Konfliktkultur zwischen Dorf- bzw. Stadtgemeinde und der Herrschaft ausloten, beschreibt der Autor unter den Stichworten »Ordnung von oben: Kontrolle, Verschriftung, Hierarchisierung«, »Junker, Weib und Kaufmann. Geschäftliches« oder »Herrschaftsnöte und herrschaftliche Konzepte« die Probleme der Herrschaftssicherung aus der Perspektive derer von Saldern. Diese Passagen bescheren uns – wohl bis dahin in dieser Dichte und Einprägsamkeit kaum vorgeführte – Einblicke in die Veränderungen von Herrschaftsstrategien und -stilen; lediglich über den Gebrauch des »Absolutismus«-Begriffs (S. 62, 66 u. ö.) im hier gewählten Zusammenhang ließe sich diskutieren. Der Dechiffrierung der Sprache der Illiterati wenden sich die Ausführungen im Kapitel »Symbole und Rituale – Geschwätz und Habitus« zu; ebenso werden das Kirchenleben, die Volksmagie und die Raum- und Zeitvorstellungen in der Plattenburg-Wilsnacker Lebenswelt in die Betrachtung einbezogen.
Der Blick wird aber immer wieder auch über die Herrschaft hinaus gerichtet. Sei es durch Ausführungen, die einzelne Herrschaftsinhaber – heraus ragt unter diesen Matthias von Saldern (1508-1575) – in ihren Beziehungen zum kurfürstlichen Hof und zur adligen Machtelite in Kurbrandenburg präsentieren, oder sei es durch Passagen, in denen die grenzüberschreitenden Kontakte derer von Saldern verdeutlicht werden.
Es ist eine durchweg und stringent aus den Quellen geschriebene Darstellung. Den übergroßen Teil des Quellencorpus bietet das über 8.000 Akteneinheiten umfassende Guts- und Familienarchiv der Herrschaft Plattenburg-Wilsnack im Brandenburgischen Landeshauptarchiv.
Dem Autor gelingt es in vorzüglicher Weise, die Quellen, auch solche mit anscheinend spröder Materie, zum Sprechen zu bringen. Ihre Aussagekraft erhalten sie vor allem deshalb, weil Jan Peters das methodische Instrumentarium der Historischen Anthropologie bzw. Mentalitätsgeschichte – und diesen Ansätzen weiß sich das Buch vor allem verpflichtet – meisterhaft beherrscht und somit den Interpretationsrahmen seiner Quellen voll ausschöpfen kann. Nicht zuletzt soll auf die gute Illustrationsauswahl hingewiesen werden, die ebenso wie die zahlreichen Tabellen und Diagramme die Darstellung trefflich ergänzt.
(Frank Göse)
Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte, Bd. 59/2008, S. 241 f.
Professor Jan Peters präsentiert in diesem umfangreichen Band die Resultate seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit der Herrschaft des Adelsgeschlechts v. Saldern auf einem Güterkomplex in der Prignitz unter Einschluß der einst durch ihre Wunderblutprozessionen bekannten Mediatstadt Wilsnack. Die günstige Quellenlage ermöglichte nicht nur sehr ausgedehnte Forschungen zur kleinstädtischen, dörflichen und gutsherrschaftlichen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, sondern auch Exkurse zu vielen anderen Aspekten, wie Karthographie-, Mentalitäts-, Religions- oder Rechtsgeschichte. Immer wieder wird auch der Einfluß der »großen« politischen Geschichte auf die kleinräumige »Saldern-Herrschaft« deutlich gemacht. Der Rezensent muß dem Verfasser das große Kompliment machen, noch nie ein Buch gelesen zu haben, welches so frisch und anschaulich die von ihm gemachten Tausende kleiner Funde und Erkenntnisse präsentiert. Hier handelt es sich beispielsweise (pars pro toto) um Charakteristiken von Vertretern des Salderngeschlechts, die Raumerfahrungen und geographischen Kenntnisse von Dorfbewohnern, die Darstellung durchaus »kämpferischer« Erlebnisse frühneuzeitlicher Frauenpersönlichkeiten in Prignitzer Dörfern oder um das Nachleben katholisch geprägter Traditionen im allgemeinen Rahmen des Luthertums, welche wahrscheinlich gerade um Wilsnack herum stärker waren, als bislang angenommen. Für den Agrarhistoriker und den Demographen dürften besonders die in mühevoller Quellenarbeit gewonnenen Angaben über die Ertragsfähigkeit von adeligen und bäuerlichen Gütern und deren Betriebsstrukturen genauso wichtig sein, wie die in anschaulichen Tabellen festgehaltenen demographischen Angaben z. B. über spezifische Fruchtbarkeitsziffern und das Alter der Frauen bei ihrer ersten und letzten Geburt. Musterhaft illustrieren die Fotographien von Peters seinen Erzählfluß. Zum alten Streit der Agrarhistoriker über die »ostelbische Gutsherrschaft« weist Peters anhand vieler Beispiele nach, warum gerade die Saldern-Herrschaft an starken bäuerlichen Betrieben mit stabilen Leistungen interessiert war und wie man dies versuchte zu erreichen. Bei soviel gespendetem Lob muß man aber zumindest einen kritischen Punkt erwähnen: Peters sollte seine Ausführungen zu Hexenwesen und Magie im Lichte der neuesten Erkenntnisse von Katrin Moeller (2007) und Robert Zagolla (2007) streckenweise überarbeiten und präzisieren. Ungeachtet dessen ist diese umfängliche, sorgfältig gearbeitete und sehr anregende Arbeit allen an frühneuzeitlicher Geschichte Interessierten als ein Lesevergnügen und eine wahre Fundgrube historischer Erkenntnisse wärmstens zu empfehlen.
(Jürgen W. Schmidt)
Das Historisch-Politische Buch, 56. Jhg., Heft 2/2008, S. 298
In einer Zeit, in der die deutsche wie auch die europäische Historiographie um das Für und Wider einer zeitgemäßen Erweiterung ihres Forschungsgegenstandes diskutieren, hat Jan Peters mit dem vorliegenden Werk dazu wesentliche Akzente aus der Sicht eines Wirtschafts- bzw. Agrarhistorikers gesetzt. Ehedem Angehöriger des Berliner Akademie-Instituts für Wirtschaftsgeschichte gehörte er zu denjenigen, die um wissenschaftliche Kontakte zu historisch-gesellschaftlichen Nachbardisziplinen bemüht waren. Dazu zählte nicht zuletzt die Volkskunde/Ethnologie mit vergleichbaren Ambitionen ihrerseits. Dies vorausgeschickt, zeichnet sich dieses Buch durch eine schwer erarbeitete, aber absolut gelungene Interdisziplinarität aus, deren Anwendung allein es erst ermöglicht hat, einem so komplexen Forschungsthema wie den Märkischen Lebenswelten als Gesellschaftsgeschichte in einem derart umstürzenden Zeitraum wie dem der Frühen Neuzeit gerecht zu werden und es darzustellen.
Ohne die eindeutige wissenschaftliche und wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung seines Buches hervorzuheben, stellt Peters der eigentlichen Darstellung ein Kapitel »Konzept, Verfahren und Schrifttum« voraus. Das sind theoretisch-methodologische Reflexionen, die bei der immerhin relativ neuartigen Behandlung eines historischen Themas dieser Art notwendig sind; eines mikrohistorischen Themas, dessen Forschungsergebnisse makrohistorische Erscheinungen bestätigen oder vertiefen und umgekehrt. Im Rahmen der Rezension eines so inhaltsvollen Buches muss es mit Hinweis auf dieses einführende Kapitel letztlich sein Bewenden haben, doch soll das volkskundliche Betrachtungselement ausdrücklich hervorgehoben werden: Wie alles, was Peters vorlegt und erörternd interpretiert, auf einer klaren und eindeutigen Quellenbasis beruht, so gilt dies nicht minder für die »quellengesicherte Narration eines oft noch verkannten Erkenntnismittels«. Dieses narrative Element ist letztlich die »Stimme« derjenigen, die in der hier darzustellenden »Gesellschaftsgeschichte« einen beträchtlichen Anteil haben: die Bauern in ihrem eigenen, vielfältigen Tagewerk, in ihrer wechselvollen Abhängigkeit von Grund- und Gutsherren (hier das Geschlecht derer von Saldern auf der märkischen Plattenburg-Wilsnack), in ihren Stellungnahmen zu den reformerischen Maßnahmen der Herrschaft, zur Teilhabe am regionalen Marktgeschehen, zur Verbesserung der agraren Produktivkräfte etc., aber auch ihre Anstrengungen, sich in den politischen und kriegerischen Wirrnissen des 17./18. Jahrhunderts zu behaupten, oder als Reisende oder Boten in herrschaftlichem Auftrag, bei denen sie Beziehungen im eigenen Interesse knüpften, d.h. den Grad ihrer Mobilität außerhalb des Dorfes erweiterten und sich damit neues Gedankengut aneigneten. Kurzum: Alles Elemente eines sich wandelnden Zeitraums, eines Prozesses, dem – neben der Herrschaft und den Bürgern des einbezogenen Städtchens Wilsnack – auch die Bauern unterworfen waren und den zu ihren Gunsten bisweilen zu gestalten, sie aber durchaus verstanden. Es ist also dieser Prozess in seiner vielgliedrigen Ausprägung und im Rahmen einer Gesellschaftsgeschichte (!), den Jan Peters sehr minutiös darzustellen verstanden hat und in dem das bäuerliche Element detailliert zu Wort kommt. Das aber ergibt sich aus dem enormen Quellenfundus, der Peters zur Verfügung stand und aus dem er zahlreiche wörtliche Aussagen von Bauern im Original zitiert. Dieser Quellenfundus umfasst über 8.000 (!) Akteneinheiten im Brandenburgischen Landeshauptarchiv zu Potsdam; um diesen zu sichten und zu verarbeiten war »ein erheblicher Tribut« zu zahlen, »vor allem in Gestalt von Zeit, genauer: von mehreren Arbeitsjahren«.
Das Buch enthält also eine große Anzahl von durchweg kursiv gesetzten bäuerlichen »Narrationes« zur »Realität [ihres] unebenen Alltags-Pfades« und zugleich zur »Historizität anthropologischer Sachthemen«. Das sind solche, die uns aus der volkskundlichen Forschung bekannt sind, die aber hier durch unmittelbare Stellungnahmen aus bäuerlicher Sicht des genannten Zeitraums vertieft, wenn nicht sogar doch erst als forschungsrelevant erkannt werden; zum Beispiel »Gefühl und Partnerschaft, Ehe und Familie, Arbeit und Ehre, Kommunikation, Körpersprache, zum Eigenen und Fremden, zu Krankheit, Gewalt und Tod, Rationalität, Religion und Zeitverständnis«. Dieses Themenensemble ist entsprechend auf die anderen Glieder der »kleinräumigen« Gesellschaft jener Herrschaft der von Saldern übertragbar. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang gleichfalls die 24-seitige Auflistung der benutzten Literatur mit Nennung der maßgeblichen volkskundlichen Publikationen, aber auch – für den Rez. fast überraschend – der mehrfache Hinweis auf das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (HDA) und Sagensammlungen.
Selbstverständlich wird hier kein genuin volkskundliches Werk besprochen. Aber mit Anwendung von Methoden der kulturhistorisch-anthropologischen Interdisziplinarität nimmt die Ethnologie/Volkskunde einen nachhaltigen Platz ein, über den es hier besonders zu reflektieren galt. Ansonsten geht es – wie der Autor des öfteren betont – um die »Ganzheit einer exemplarischen Kleingesellschaft«, und das ist die Gutsherrschaftsgeschichte derer von Saldern »lebendigen, dynamischen und kommunikationswilligen Zuschnitts«, abgehandelt in »XXX« Kapiteln von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis um 1800, des Beginns der Reformjahre und des allmählichen Übergangs in ein neues Zeitalter, ohne dabei die junkerliche Gutswirtschaft des 19. Jahrhunderts mit einzubeziehen.
Die Familie der »Salderns« stammte aus dem Braunschweigischen, befand sich in Fehde mit dem herzoglichen Landesherrn und setzte sich um die Mitte des 15. Jahrhunderts nach und nach an den Hof des brandenburgischen Kurfürsten ab, wo sie wichtige Dienste übernahm und sich die Herrschaft Plattenburg-Wilsnack aus dem Besitz des Bistums Havelberg verschaffte.
Der Zeitabschnitt 1550-1575 steht unter einer »modern« anmutenden Überschrift »Herrschaft, Inszenierung und Umbau« (S. 47-180), was den Absichten eines Matthias von Saldern entsprach, seinen Besitz nicht nur zu erweitern, sondern ihn auch zu sichern, und zwar gegenüber den »rechtlich und wirtschaftlich günstigen Bedingungen der bäuerlichen Siedler in der Landnahmezeit, ihren wenig belastenden Abgabenverhältnissen und vor allem auch [...] ihrer Dienstfreiheit«. Das waren traditionell zu begründende Rechte, und die Bauern galten als »Meister der Erinnerung, ihr Gedächtnismonopol konnte kaum jemand von außen brechen, [...] und ohne das bäuerliche Gedächtnis war die Herrschaft im Grund hilflos«, ja auf der Plattenburg und in Berlin (!), »nahm man die Bauern ernst, hatten sie doch [...] recht gute Karten«, auch wenn dies nicht verallgemeinert werden darf. Schließlich bezog sich der geschilderte Umstand auf die noch fehlende »Verschriftlichung« bei Verhandlungen, welche die Bauern nach und nach akzeptieren mussten, und dies kaum zu ihren Gunsten, was erklärlicherweise für Konfliktstoff sorgte. »Gutswirtschaft, Bedrängnis und Widersinn« charakterisieren die fünf folgenden Jahrzehnte von 1575 bis 1625 (S. 181-315). Ein »Neues Säkulum« war angebrochen, das Verhältnis zwischen Herrschaft, Gutswirtschaft und den Bauern blieb strittig. Die Dörfer, nunmehr in bedrängterer Lage, nahmen »jeden Herrschaftswechsel und jede Zeit der Unmündigkeit auf dem Herrensitz zu neuen, meist versteckten Vorstößen wahr«, um ihren Besitz zu sichern, ihre Dienstabhängigkeit zu begrenzen, aber auch dann irgendwie nachzugeben, wenn sich bestimmte Absprachen nicht mehr in Frage stellen ließen. Zugleich verstanden sie es auch, »mit scheinbar naiver Offenheit teils ihre Ergebenheit, teils auch in übertriebener Darstellung die Misslichkeit« ihres Alltags, ihrer Existenz überhaupt als Rechtsmittel ins Gespräch zu bringen. Nicht anders die Herrschaft, die »scharfe Zugriffe mit friedlichem Verhandlungswillen abwechseln ließ«. Beide Parteien »beriefen sich, möglichst passgerecht zum akuten Fall, auf christliche Nächstenliebe«. In den Dörfern aber verstand man, sich auf den »Umgang mit den verschiedensten Interessenlagen« einzurichten, besonders auf Methoden »zwischen Einlenken und Fügsamkeit bzw. Eigensinn und Revolte, [denn] ohne diese Wandlungsfähigkeit konnten die Abhängigen ohnehin nicht bestehen«. Wenn Peters als kennzeichnend für diese Zeiten von »Krise vor dem Krieg – die fragile Mächtigkeit« schreibt, dann handelt es sich um Brandanschläge im Bereich der Herrschaft quasi als Sühnemaßnahmen nach herrschaftlichen Ungerechtigkeiten u.a., noch mehr aber um »Fehden« »als Mittel im Austragen der verschiedensten Spannungen und Intentionen« – eine »Konfliktpraxis von großer Ernsthaftigkeit« gegen soziale Missverhältnisse und Spannungen »auf dem Hintergrund von Handlungsohnmacht zum Handlungskurzschluss«. All dies entstand aus einer gewissen »Leichtfertigkeit im Umgang miteinander [und] wurde zu einem Mittel von politischer und spezialer Relevanz [in der] Spezifik der zeitgeprägten Spannungssysteme, die wiederum die Gesellschaftskrise am Beginn des 17. Jahrhunderts indizierten«.
In diesen Zusammenhang gehören sogleich die Jahre von 1625 bis 1650, zeitgemäß betitelt mit »Angst, Hexerei und Krieg« (S. 317-366), die vor allem durch den Dreißigjährigen Krieg bestimmt wurden, dem verheerendsten Geschehen in der deutschen Geschichte. Was da an unvorhergesehenen Übeln über die Menschen in Prignitz und Uckermark hereinbrach, schien oft auf das Wirken übernatürlicher Mächte zurückzuführen zu sein, über die angeblich Leute aus den Gemeinden, der Stadt Wilsnack bis hin in gutsherrschaftliche Kreise verfügten. Wie auch in früheren Zeiten, als man meist missliebige Menschen für Unwetter, Missernten, Seuchen u.a. verantwortlich machte und sie mit harten Strafen belegte, verbrannte oder hängen ließ, betraf dies nun auch jetzt verdächtige Personen, deren man sich durch Hexenprozesse, Verbrennen oder Ausweisen entledigte, ohne damit freilich das Kriegsgeschehen als Ursache zu erkennen oder gar beenden zu können. Andererseits nahm man gerade in den Dörfern zu abergläubischen Ritualen als letzte Möglichkeit des täglichen Durchkommens vor soldatischen Misshelligkeiten Zuflucht.
Was die Nachkriegsumstände betrifft, so sind sie wie stets in solchen Zeiten geprägt durch »Hoffnung, Enttäuschung und Neubeginn«. Sie gelten für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts bis 1700 (S. 361-559) und bedingen eine vielfältige Darstellung über alte und neue Erscheinungen meist des Alltagslebens in Dorf und Stadt, exemplifiziert an Geschehnissen in namentlich genannten Dörfern und wie in den Akten aufgezeichnet. Die Fülle des Dargebotenen ist zu groß, als dass sie in einer Rezension behandelt werden könnte. Sie eignet sich aber vorzüglich zur wissenschaftlichen Lektüre, und das sei besonders vermerkt. Wir beschränken uns daher auf eine Übersicht der wichtigsten Themen, als da sind: »Krisenabwehr in Nachkriegszeit«, »Die Notwehr der Schwachen«, »Aufstieg und Rückfall – Wilsnack im Taumel«, »Symbole und Rituale – Geschwätz und Habitus«, »Wissen und Erfahrung – Schule und Bildung«, »Kirchenleben«, »Geschlecht und Generation, Ehre und Magie«.
Die Realität sah freilich anders aus und spiegelt sich im Kapitel für das Jahrhundert zwischen 1700 und 1800 – dem letzten des Buches – wider, das den Titel »Enttäuschung, Hoffnung und Wandel« trägt (S. 561–769). Alle drei Aspekte oder Elemente betreffen sowohl die herrschaftliche Gutswirtschaft und die Vorwerke als auch die dörflich-bäuerlichen Höfe oder Hauswirtschaften. Wie auch immer sich das gegenseitige Verhältnis gestaltete und letztlich auf jahrhundertealten Erfahrungen beruhte, so hatte das 18. Jahrhundert »als eine Umbruchzeit zwischen Vormoderne und Moderne, zwischen Spätfeudalismus und Kapitalismus« seinen besonderen Einfluss auf die Prozesshaftigkeit der beiderseitigen Beziehungen, denn Umbruch verlangt Umstellung, und wie passten sich Herrschaft und Bauern der »Neuen Zeit« an? Diese waren in mancherlei Weise »hart und mitleidlos, und Zusammenstöße gab es all überall«. Dazu stellt Peters eine große Anzahl von Beispielen zusammen; aber von besonderer wissenschaftlicher Relevanz sind seine Betrachtungen zu »Bauernarbeit, Bauernnöten und bäuerlicher Findigkeit« und dem aktenkundigen Grundsatz, »ob Mann oder Frau, sie alle ernährten sich von ihrer Hände Arbeit« – Arbeit, die sich »im frühneuzeitlichen Dorf der Prignitz [...] an einer großen Vielfalt mutabler Formen festmachen« ließ. Peters zählt sie auf und benötigt dafür eine halbe Druckseite. Die Dörfler mussten also »viele Arbeitsarten beherrschen, auch solche, die auf oder jenseits der Grenze des Erlaubten standen«, was wiederum bedeutete, dass auf den Dörfern ein »Spezialistentum neuer Art [entstanden war], nämlich das der beherrschten Vielfalt«. Aber das frühneuzeitliche Dorf in der Prignitz, und ganz sicher auch in anderen Regionen, zeichnete sich »durch ein hohes Maß professioneller Vielfalt« aus, und »der pflügende Bauer und die bindende Bäuerin sind mithin nur eine innere Kernstruktur«. Wenn Peters dann die Frage stellt, wie sich diese neuen dörflich-bäuerlichen Verhältnisse mit den nach wie vor doch rigiden Anforderungen der Herrschaft vereinbaren ließen, so gibt er selbst die Antwort: »Quer durch die gutsherrliche Arbeitsverfassung verlief ein irreparabler Riss«, was ihn zur weiteren Frage veranlasst: »Ist nicht am Ende 'Severitas' (im Sinne von Strenge) weit angemessener zur Kennzeichnung der Herrschaftshaltung als der vieldeutige Begriff 'Paternalismus', von dem man nie so recht weiß, ob er nicht doch freundliche Väterlichkeit meint?« Und schließlich soll die Feststellung von Jan Peters am Ende seines auch sprachlich-stilistisch bemerkenswerten Buches der Abschluss unserer Rezension sein – nämlich, dass der »vorbereitende stille ökonomische Wandel und Widerstand das Zeitfenster der Reformen und Aufstände [des 19. Jahrhunderts] öffnete«.
(Wolfgang Jacobeit, Fürstenberg / Havel)
Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde, 53/2008, S. 406-409
Jahrelang wühlte sich Jan Peters durch das Archiv des Adelsgeschlechts von Saldern. Der Historiker wälzte über 8000 Akten und verfasste am Ende einen Wälzer über das Leben in der Westprignitz in der frühen Neuzeit. Möglich wurde dies durch eine Reihe von glücklichen Umständen, denn viele andere Archive von brandenburgischen Gütern gingen verloren. Doch die Saldern hatten ihr Archiv nach dem Ersten Weltkrieg im Preußischen Staatsarchiv Stettin deponiert, und das Ende des Zweiten Weltkriegs überdauerten die Bestände in einem Salzbergwerk südlich von Magdeburg. Heute lagern sie im Landeshauptarchiv in Potsdam.
Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts verfügte die aus dem Braunschweigischen stammende Familie von Saldern in der Westprignitz über umfangreiche Besitzungen, die der kurfürstliche Rat und Kämmerer Matthias von Saldern erworben hatte. Sprösslinge des Geschlechts residierten in der Plattenburg und im Städtchen Wilsnack und hatten untereinander immer wieder heftigen Streit.
Das Buch ist nicht etwa bloß eine Familienchronik derer von Saldern. Peters schildert sogar viel umfänglicher das Leben der Bauern und Bettler, der Handwerker, Kaufleute und Tagelöhner, der Müller und der Pfarrer von Wilsnack, Groß Lüben oder Legde in den Jahren 1550 bis 1800. Es geht um Diebstahl, Hexenverbrennung und Ehebruch sowie um den fortwährenden Kampf der Hüfner und Kossäten gegen höhere Dienste und Abgaben und um die Rechte an Wald und Weide. Statistische Tabellen und Erläuterungen geben Auskunft, wann geheiratet wurde, wie viele Kinder zur Welt kamen und von welchen äußeren Einflüssen das jeweils auch abhing.
Oft gelingt es Peters, Trends mit plastischen Beispielen zu illustrieren. Er zeichnet zum Beispiel den Lebensweg von Jochen Fredderich nach, der seinen Unterhalt als Diener des Hans Siegfried von Saldern auf der Plattenburg, aber ebenso als Bauer in Legde und in der Altmark verdiente. Erstaunlich, was sich auch über einfache Leute herausfinden ließ beim Studium des gewaltigen Aktenbergs. Eine mühevolle Arbeit, die sich aber ganz offensichtlich lohnte.
(Andreas Fritsche)
ND, 12. November 2007, S. 18
Geschichte und Geschichten: Saldernherrschaft genauer betrachtet
Jan Peters Buch »Märkische Lebenswelten« ermöglicht erstaunliche Einblicke in die Alltagswelt von Adel und einfachem Volk.
Wer im Jubiläumsjahr tiefer in die Gesellschaftsgeschichte rund um Bad Wilsnack und Plattenburg eintauchen will, dem sei das Buch »Märkische Lebenswelten« empfohlen.
BAD WILSNACK – So viele Zeugen etwas beobachten, so viele Versionen ein und derselben Geschichte erhält man. Was so wie eine Binsenweisheit klingt, wird nur zu oft bei Recherchen in Archiven vernachlässigt. Glücklich über den Fund von Akten, die etwa Aufschluss über den Heimatort geben, missachtet der Laie häufig, dass das Überlieferte durch den jeweiligen Berichterstatter subjektiv gefärbt ist. Auf diese Feststellung legt der Historiker Jan Peters in seinem Buch »Märkische Lebenswelten« großen Wert. Als Grundlage für seine Forschungen zur Gesellschaftsgeschichte der Saldernherrschaft zwischen 1550 und 1800 lag ihm ein reichhaltiges Angebot an historischen Quellen vor. Denn gerade das Herrschaftsarchiv Plattenburg-Wilsnack ist im Gegensatz zu anderen brandenburgischen Adelsarchiven gut erhalten. In den 1930er Jahren deponierten es die Saldernnachfahren im Preußischen Staatsarchiv Stettin, so dass es nach 1945 weder vernichtet noch zur Verschlussakte im Geheimen Staatsarchiv zu Berlin werden konnte. Bestandteil dieses dreiteiligen Werks sind auch Patrinomalgerichtsakten. Sie erlauben einen Einblick in die Rechtsstreitigkeiten, die Bauern, Knechte und Handwerker seinerzeit führten. Somit gelingt es Peters, die Ereignisse auf allen sozialen Ebenen zu beleuchten und damit dem Ideal der Darstellung einer komplexen Lebenswelt näher zu kommen. Es scheint gar, als betrachte der Autor die kleine Welt des Saldern-Imperiums wie unter dem Deckglas eines Mikroskops, um daran exemplarisch aufzuzeigen, dass gesellschaftliches Leben durch mannigfaltige Faktoren wie Preisentwicklung, religiöse und juristische Konventionen, Aberglaube, Bildung, Handelsbeziehungen, die Wirren des Dreißigjährigen Krieges ja sogar das Klima beeinflusst wird. Im Zuge seiner Bestandsaufnahme versteht es der Historiker, all diese Aspekte im Detail zu analysieren, ohne den Blick für das große Ganze zu verlieren.
Am Beispiel von Wilsnack zeigt Peters auf, wie sich das Leben im einstigen Wallfahrtsort nach dem Fortbleiben des Pilgerstroms entwickelt hat, wie sich das Gewerbe stärker herausbildete als im Umland. Angesichts der dadurch ausbleibenden Einnahmen sei die Gefahr der Verarmung und der Rückfall in die dörfliche Bedeutungslosigkeit jedoch allgegenwärtig gewesen. Doch finden auch viele andere Orte in Peters’ Untersuchung Erwähnung. Schließlich gehörten zu den Häusern Plattenburg und Wilsnack auch Zernikow, Zichtow, Abbendorf, Groß Leppin, Legde, Groß Lüben, Bendelin und andere Orte in der Umgebung.
Beim Versuch, eine große Bandbreite von Sichtweisen einzubeziehen, fördert Peters Fakten über die Wechselbeziehung zwischen Adel und Volk zutage, die das übliche Schema von Herrscher und Beherrschtem aufweichen. So stellt er fest, dass die Bauern die instabile Übergangszeit nach dem Tod von Matthias von Saldern sehr wohl für sich zu nutzen wussten und versuchten, ihre Rechte neu abzustecken.
Die Wilsnacker Ackerbürger nahmen in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle ein. Als Einwohner einer Mediatstadt hatten sie auch die Möglichkeit, den Appellationsweg in Richtung Landesherr zu beschreiten, was auch vielfältig genutzt wurde. Nach sorgfältigem Studieren der Gerichtsakten kommt Peters zu der Überzeugung: »Häkeleien en masse gehörten deshalb zu den treuen Wegbegleitern der Junker bei ihrem gutsherrlichen Umbau«.
Selbst Leser, die der akademischen Seite des Buches wenig abgewinnen können, finden in Peters’ Studie zig Geschichten, die direkt in die Wohnstuben von Bauern, Knechten, aber auch den Rittersaal der Plattenburg führen und somit das pralle Leben jener Zeit illustrieren.
Bemerkenswert ist etwa die Geschichte vom Weibersturm zu Groß Lüben, bei dem es im Februar 1688 um Holzschwellen ging, die sich der Krüger des Dorfs vermeintlich widerrechtlich angeeignet hatte. Als der Landreiter erschien, um sie sicherzustellen, kam es zu einer großen »sozialen Eruption«. Gegen den Sturm der Weiber des Dorfes kamen die Männer letztlich nicht an und mussten unverrichteter Dinge abziehen. Eine Randglosse bildet auch die Information, dass Matthias von Saldern die Jagd verachtete, was ihn, gemessen an seinen Nachfahren als völlig aus der Art geschlagen erscheinen lässt. So bemerkt Peters an anderer Stelle, dass der von Burchard von Saldern betriebene »Adelssport« beträchtliche Ausgaben verursachte. Interessant erscheint auch, dass der Bierkonsum auf der Plattenburg im 17. Jahrhundert enorm hoch war. Der Rittersaal war einst nicht nur Parkett für die strategische Eheanbahnung, auch bürgerliche Aufsteiger nutzten die Besuche als Sprungbrett für Geschäfte und andere Vorteilsnahme.
Dorothea von Dahlen
Prignitz-Kurier MAZ, 21.08.2008, S. 18
Hexenmagie selbst auf Pfarrhöfen
PLATTENBURG – Historiker richten meist ihre Aufmerksamkeit auf die Herrschaftshäuser, um die geschichtlichen Ereignisse einer Epoche darzustellen. Umso interessanter erscheint da eine Neuerscheinung von Jan Peters mit dem Titel »Märkische Lebenswelten«. Der Autor untersucht die Gesellschaftsgeschichte der Herrschaft Plattenburg- Wilsnack zwischen 1550 und 1800. Am morgigen Sonnabend, 8. September, stellt der Berliner Wissenschaftsverlag das Buch im Salon auf der Plattenburg vor. Die Veranstaltung beginnt um 14 Uhr. Der Eintritt ist frei.
Möglich wurde Peters’ Blick hinter die Kulissen dank eines exzellenten Quellenbestandes im Potsdamer Landeshauptarchiv. So konnte der Autor für die Prignitzer Region sowohl den gewöhnlichen Alltag als auch außergewöhnliche Krisen-, Konflikt- und Kriegssituationen rekonstruieren. Nicht nur allgemein, sondern ganz lebensnah wie der Einzelne, die Familie, Herr und Pfarrer, Bauer und Knecht, Mann und Frau die alltägliche Dynamik und Ordnung in ihrer Lebenswelt an sich selbst erfuhren.
So berichtet Peters etwa, worüber sich die Wilsnacker am Abend jenes Tages im Mai 1552 unterhielten, als in ihrer Kirche das Gefäß mit den Wunderbluthostien zerschlagen wurde, oder belegt, wie die Hofarbeiter auf der Plattenburg hinter vorgehaltener Hand über ihren neuen Herrn Matthias von Saldern dachten und seinen einschüchternd distanzierten Habitus.
Ungewöhnliche Fragen lassen sich stellen, überraschende Antworten erhalten: Warum tauschten Dörfer Fehdebriefe aus? Inwieweit ist auch auf den Herrensitzen und Pfarrhöfen Volksmagie praktiziert und Hexenjagd akzeptiert worden?
Mit Peters’ Buch öffnet sich ein weites historisches Feld für Konkretes an Kommunikation und Information, an Zeit und Raumgefühl, an Werten und Würden. Dörfer, Städtchen und Herrenhäuser lassen dergestalt viele verborgene oder doch unbekannte Biographien vor unserem inneren Auge entstehen.
Dorothea von Dahlen
Prignitz-Kurier MAZ, 07.09.2007, S. 16
Worüber stritten sich die Wilsnacker am Abend jenes Tages im Mai 1552, als in ihrer Kirche das Gefäß mit den Wunderbluthostien zerschlagen wurde? Wie redeten in eben diesem Jahr die Hofarbeiter auf der Plattenburg hinter vorgehaltener Hand über ihren neuen Herrn Matthias v. Saldern und seinen einschüchternd-distanzierten Habitus? Mit welchen Listen und Launen widersetzen sich die Bauern aus den umliegenden Dörfern den neuen Diensten, die sie mit dem anbrechenden 17. Jahrhundert besonders mit dem Namen des folgenden Herrn auf der Burg, Burchard v. Saldern, verknüpften? Was hielten benachbarte Herrschaften vom Saldernschen Umgang mit Grenzen und Gerechtigkeiten, was eigene Familienmitglieder und die Bauern »der Anderen« von jener expandierenden lokalen Besitzeinheit, die als »Saldern-Kreis« in Elb- und Havelnähe allmählich die Gestalt einer gutswirtschaftlich geprägten Gesellschaft annahm? Dank eines exzellenten Quellenbestandes im Potsdamer Landeshauptarchiv können für etwa zwei Jahrhunderte für eben diesen Raum sowohl der gewöhnliche Alltag als auch außergewöhnliche Krisen-, Konflikt- und Kriegssituationen rekonstruiert werden. Nicht nur allgemein, sondern ganz konkret und lebensnah, so wie der Einzelne, die Familie, der Herr und Pfarrer, Bauer und Knecht, Mann und Frau die alltägliche Dynamik und Ordnung in ihrer jeweiligen Lebenswelt an sich selbst erfuhren.
Hier öffnet sich ein weites Feld für Konkretes an Kommunikation und Information, an Zeit- und Raumgefühl, an Werten und Würden. Dörfer, Städtchen und Herrenhäuser lassen dergestalt viele verborgene oder doch unbekannte Biografien vor unserem inneren Auge entstehen, somit auch die Gesellschaftsgeschichte kleiner, in Großräumigkeit eingebetteter märkischer Lebenswelten.
Die Mark Brandenburg, Heft 69, S. 40
Nahezu ein Jahrzehnt, von den frühen 1990er Jahren bis zum Beginn des neuen Jahrtausends, hat die Max-Planck-Arbeitsgruppe „Osteibische Gutsherrschaft als sozialhistorisches Phänomen" mit ihren Forschungen und Publikationen vielfältige Einblicke in bäuerliche, gutsherrschaftlich geprägte Lebenswelten geschaffen. Deren Leiter, Jan Peters, hat dieser erfolgreichen Unternehmung mit seiner monumentalen Geschichte der Herrschaft Plattenberg-Wilsnack einen würdigen Abschluss verschafft. In weit mehr als zehn Jahren kontinuierlicher Forschungsarbeit hat Peters über 8.000 Akteneinheiten herangezogen, vornehmlich aus dem im Brandenburgischen Landeshauptarchiv gelagerten Guts- und Familienarchiv der Herrschaftsfamilie, derer von Saldern. Trotz der im Untertitel bemühten „Gesellschaftsgeschichte" fokussiert Peters auf einen lebensweltlichen Ansatz und eine historisch-anthropologische Zugangsweise. Es gehe darum, mittels einer quellengesättigten Narration „kleine Zusammenhänge im laufenden Erzähltext" zu schaffen. Dabei würden Strukturen und Prozesse „ein wenig beiseite" gedrückt, um stärker „moralisch gebremste und disziplinierte Imaginationen" (S. 6) zu liefern.
Die Darstellung ist stark gegliedert: Fünf Großkapitel stehen 30 Kapiteln und 138 Abschnitten gegenüber, die wiederum in weitere Unterabschnitte geteilt sind. Während die Großkapitel chronologisch („Herrschaft, Inszenierung und Umbau, 1550–1575"; „Gutswirtschaft, Bedrängnis und Widersinn, 1585–1625"; „Angst, Hexerei und Krieg, 1625–1650"; „Hoffnung, Enttäuschung und Neubeginn, 1650–1700"; „Enttäuschung, Hoffnung und Wandel, 1700–1800") aufgebaut sind, folgen die Kapitel einem systematischen Konzept. Die thematische Vielfalt ist außerordentlich, die Einblicke in Arbeit, Kultur und Alltag insbesondere der einfachen Menschen geraten besonders tief. Ob demographisches Verhalten, Raum- und Zeitvorstellungen, Kommunikation und Information, Kriminalität und Gewalt, Krisen und Konflikte, Ehe und Geschlecht, Ehre und Selbstbestimmung, Inszenierung von Herrschaft und Macht, Religion und Magie, Schule und Bildung, Ökonomie und Arbeit – kein Aspekt menschlichen Daseins fehlt.
Auch wenn die großen Thesen nicht angesprochen werden, theoretische Ansätze und Fragestellungen letztlich nur eine geringe Rolle spielen und der Band mehr ein funda¬mentales Nachschlagewerk darstellt, so wird dieses Manko deutlich aufgewogen durch eine derartige empirische und den Leser imponierende Forschungsleistung. Es ist Peters wohl zuzustimmen, dass dieser Band veranschaulicht, wie die in der DDR postulierte, aber dort nie wirklich realisierte „Geschichte des Volkes" hätte ausfallen können.
Der Band ist prachtvoll ausgestattet. Mit seinen 97 Abbildungen, davon über 30 farbig, fast 40 Tabellen, Grafiken und Diagramme, einem Quellenanhang und einem Personenregister (leider kein Orts- und Sachregister) darf dieser Band in keiner landes- und agrargeschichtlichen Bibliothek fehlen.
Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 58, 2008